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Zur Geschichte des Landschulheimes
Biographie Anna Essinger
Biographie
Hugo Rosenthal
Das Haus Unterm Regenbogen steht auf dem historischen Boden der Landschulheime
Herrlingen Anna Essingers (1926-33) und Hugo Rosenthals (1933-39)
sowie des Jüdischen Zwangalterheims Herrlingen (1939-42). Vor
diesem Hintergrund engagiert sich das Haus Unterm Regenbogen in der
systematischen historischen und biographischen Rezeption dieses Ortes
und publiziert die daraus resultierenden Ergebnisse in einer eigenen
Schriftenreihe (Öffentlichkeitsarbeit – Publikationen).
Das Landschulheim Herrlingen konnte am 1. Mai 1926 mit Unterstützung
der gesamten Familie Essinger eröffnet werden. An der Eröffnungsfeier
nahmen Ministererialrat Hirsch, die Oberbürgermeister vom Ulm
und Göppingen sowie Theodor Heuss, der spätere erste deutsche
Bundespräsident, teil.
Schon 14 Jahre zuvor hatte Anna Essingers Schwester Claire Weimersheimer
1912 in Herrlingen ein Kinderheim gegründet (Ortsplan Herrlingen),
das "... zarten, physisch und pyschisch leidenden, schwer erziehbaren
und zurückgebliebenen Kindern eine besonders sorgfältige,
heilerziehende Pflege und Entwicklung ihrer Fähigkeiten bieten"
sollte.
Motto des Lebens im Landschulheim Anna Essingers war "Lernen
mit Kopf, Herz und Verstand". Das Erleben von Gemeinschaft förderte
im Landschulheim eine Atmosphäre, in der sich die Kinder geborgen
fühlten, gleichzeitig aber Selbstständigkeit mit einem Gefühl
für Verantwortlichkeit entwickelten. Eine Maxime der Pädagogik
war: "Der Lehrer muss ein Beispiel geben im Lernen, Lachen, Lieben,
Leben." Bis 1933 bestand das Landschulheim in insgesamt fünf
Häusern nach dem Motto: "Jungen und Mädchen lernen
nach-zu-fragen, neugierig und selbstständig zu sein und Sachen
selbst herauszufinden. Bei allen Arbeiten wird das kritische Denken
gefördert."
Diese Programmatik stand natürlich in krassestem Gegensatz zum
Parteiprogramm der Nationalsozialisten, nach deren Machtergreifung
1933 Anna Essinger den Entschluss fasste, Deutschland zu verlassen,
denn dieses schien ihr "... nicht mehr länger ein Ort zu
sein, an dem man Kinder in Ehrlichkeit und Freiheit großziehen
konnte."
Als in Deutschland jüdische Kinder aus den NS-genormten staatlichen
Schulen vertrieben und im Herrlinger Landschulheim ein Staatskommissar
als Leiter eingesetzt werden soll, sucht Anna Essinger einen Zufluchtsort
im Ausland. In einer dramatischen Aktion erreichen 66 Kinder und ihre
Lehrer aus Herrlingen Südengland. Am 5. Oktober 1933 fängt
in Bunce Court, Kent, der Unterricht an.
Nach den Pogromen der "Reichskristallnacht" am 9. November
1938 erlaubte Großbritannien insgesamt 10 000 jüdischen
Kindern aus Deutschland, nicht aber deren Eltern, die visumsfreie
Einreise. Anna Essinger wurde damit beauftragt, für das Wohlergehen
und die Erziehung der Kinder zu sorgen, die im kalten Winter 1938/39
im Sommerferienlager Dovercourt ankamen.
Das Landschulheim in Herrlingen wurde ab 1933 von Hugo Rosenthal (1887-1980)
als jüdisches Landerziehungsheim weitergeführt. Es war in
diesen Jahren ein Zentrum jüdischen Lebens in Süddeutschland,
zeitweise von über hundert Schülern besucht. Sein pädagogisches
Motto lautete: "Erziehung zum Mut". –– Mindestens
15 ehemalige SchülerInnen und LehrerInnen wurden Opfer der Verfolgungszeit
1933 bis 1945.
1939 wurde das ehemalige Landschulheim in ein jüdisches (Zwangs-)Altersheim
umgewandelt, in das jüdische Bewohner verschiedener württembergischer
Orte eingewiesen wurden. 1942 wurden in Insassen nach Oberstotzingen
verlegt und kurze Zeit später in Vernichtungslager des Ostens
weitertransportiert. Zuvor waren bereits neun Insassen des Altersheimes
direkt in Lager deportiert worden.
1985 gründete sich das Haus Unterm Regenbogen mit dem Arbeitskreis
Landschulheim, um die Geschichte dieser Institution – und der
ganzen Herrlinger Geschichte – vor dem Hintergrund gezielt aufzuarbeiten
(Erinnerungsarbeit), dass es wohl kaum einen Ort, kaum ein Dorf in
Deutschland gibt, in dem sich die deutsche Geschichte der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts so exemplarisch und anschaulich wiederspiegelt
– ein Ort, an dem sich pädagogische Aufbrüche, historische
Ereignisse, deutsche Literaturgeschichte und der Umgang damit so anschaulich
zeigen, nachvollziehen, an und in Gebäuden sichtbar machen lässt.
Dazu hier ein Überblick (Ortsplan Herrlingen):
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Die Villa Lindenhof wurde 1905 vom Münchner Architekten
Richard Riemerschmied im Jugendstil gebaut.
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1912 gründete die jüdische Arztfrau Claire Weimersheimer
an der Oberherrlinger Strasse ein Kinderheim.
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Die Schriftstellerin Gertrud Kantorowicz, Geliebte des Soziologen
und Philosophen Georg Simmel, kauft 1921 das Haus Rommelsteige
13 (später Martin-Buber-Haus/ Rommelvilla). Sie wurde als
tollkühne und mutige Frau bekannt, die mit einem fingierten
Brief einen Gefangenen aus dem KZ Buchenwald befreite und im April
im KZ Theresienstadt zu Tode kam.
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Die Gründung des Landschulheims Herrlingen an der damaligen
Wippinger Steige (heute Erwin Rommel-Steige) durch Anna Essinger
markiert eine für ganz Deutschland bedeutsame Sternstunde
der Reformpädagogik
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Die Jüdin Käthe Hamburg gründete an der Karolinensteige
mit sechs Pflegekindern das Waldheim
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Im Mai 1934 fand in Herrlingen unter Leitung Martin Bubers,
des weltweit bedeutenden Philosophen des Dialogs und der Verständigung,
die erste Arbeitstagung der Mittelstelle für jüdische
Erwachsenenbildung statt – dies vor allem im Haus Breitenfels
(später umbenannt in Martin Buber Haus)
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In dieses Haus zog 1943 Generalfeldmarschall Erwin Rommel mit
seiner Frau Lucie und seinem Sohn Manfed, dem späteren Oberbürgermeister
von Stuttgart, und wurde am 14. Oktober 1944 von den Schergen
Hitlers zum Selbstmord gezwungen.
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Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs tagte im November 1947
eine der bedeutendsten Schriftstellergruppen Deutschlands erstmals
unter ihrem später berühmt gewordenen Namen Gruppe 47
im Haus von Hanns Arens und Odette Arens-Maucler, einer Freundin
von Ingrid Scholl. Das Ehepaar Arens-Maucler lebte von 1944 bis
1952 in diesem Haus, in dem u.a. der Schriftsteller und Pfarrer
Albrecht Goes und die Sängerin Lale Andersen (Lilly Marlen)
oft zu Gast waren.
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