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Herrlingen

 

 


„Rückblick Jahresempfang 2020“

35 Jahre Haus Unterm Regenbogen

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Redebeitrag von Lothar Heusohn

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35 Jahre Haus unterm Regenbogen
2. Februar 2020

Ich freue mich natürlich sehr, dass ich wieder einmal aus Anlass eines Jubiläums hier beim Jahresempfang 2020 ein paar Worte über das „Haus unterm Regenbogen“ sagen darf. Nach 1995 zum 10-jährigen Bestehen und 2015 zum 30-jährigen diesmal zu 35 Jahren „Haus unterm Regenbogen“, und zwar ganz stilvoll in der Säulenhalle der Villa Lindenhof. 35 Jahre „Haus unterm Regenbogen“. Meine Güte, was haben wir nicht alles in diesen 35 Jahren erlebt, oft und immer wieder auch zusammen erlebt. Und das nicht nur bei „kleinen Reden“ aus Anlass von Jubiläen. Als das Haus unterm Regenbogen vor 35 Jahren offiziell mit seinen Aktivitäten begann, hatten wir bewegte Zeiten. Es waren die Zeiten des andauernden »Kalten Krieges« zwischen Ost und West. Heiß diskutiert wurden die Fragen von Krieg und Frieden, die Fragen der Umwelt, die Fragen des Zustands in der sog. »Einen Welt«
– konkret des Verhältnisses zwischen den Ländern des globalen Südens und des Nordens –, die Chancen der Revolution in Nicaragua, aber auch die ureigensten deutschen Fragen, die Fragen der Erinnerungsarbeit, auch und gerade an diesem Ort – in Herrlingen –, wo sich gegensätzliche Strömungen und Personen ja buchstäblich in Wurfweite gegenüberstanden und -stehen. Anna Essinger und Erwin Rommel, das jüdische Landschulheim und die Orte des Nazi-Schreckens.

Von daher finde ich es so unverändert richtig, was man auf der Website des „Hauses unterm Regenbogen“ lesen kann. Da heißt es nämlich:
„1985 gründete sich das Haus unterm Regenbogen mit dem Arbeitskreis Landschulheim, um die Geschichte dieser Institution – und der ganzen Herrlinger Geschichte – vor dem Hintergrund gezielt aufzuarbeiten (Erinnerungsarbeit), dass es wohl kaum einen Ort, kaum ein Dorf in Deutschland gibt, in dem sich die deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so exemplarisch und anschaulich widerspiegelt – ein Ort, an dem sich pädagogische Aufbrüche, historische Ereignisse, deutsche Literaturgeschichte und der Umgang damit so anschaulich zeigen, nachvollziehen, an und in Gebäuden sichtbar machen lässt.“

Ja, das ist es wohl, was diesen Ort und diesen Verein so ungeheuer bedeutungsvoll machen. Am letzten Montag jährte sich zum 75. Mal die Befreiung des Konzentrations- und Tötungslagers Auschwitz durch die Rote Armee. Viel ist rund um dieses Datum über die Zukunft der Erinnerungsarbeit gesprochen und geschrieben worden, von der Notwendigkeit, sie immer und immer wieder fortzusetzen. Aber wie kann und muss sie aussehen 75 Jahre nach dem Ende des Faschismus? Wie kann und muss sie aussehen, wenn sie nicht zu einem bloßen Ritual verkommen will, zu einem Ritual der Sonntags- und Balkonreden? Wie kann und muss sie aussehen, in einer Zeit, in der rechte Gewalt und rechter Hass, in der Rassismus und die Forderung, doch endlich den deutschen „Nationalmasochismus“ aufzugeben und die „Normalität“ deutscher Geschichte einkehren zu lassen, immer offener und lauter formuliert wird? Nur ein Beispiel von vielen will ich nennen, Alexander Gauland von der AfD: „Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr. Deshalb haben wir auch das Recht, uns nicht nur unser Land, sondern auch unsere Vergangenheit zurückzuholen.“

Nein, genau das ist es nicht. Das sind nicht „wir“, für die Herr Gauland hier wie selbstverständlich spricht. Wenn schon das Wort „wir“ angebracht sein sollte, dann sind „wir“ diejenigen, die Lehren aus dem Nationalsozialismus gezogen haben und die zumindest für ein zentrales Vermächtnis aus dieser Zeit stehen: nämlich für das Vermächtnis, sich ungebrochen und überall auf der Welt für die Menschenrechte einzusetzen, sich mit jedem Atemzug für die Unteilbarkeit der Menschenrechte zu engagieren.

Ich sage das so dezidiert, weil man gerade hier in Deutschland glaubt, über die Propagierung der unbedingten Solidarität mit der israelischen Regierungspolitik die Menschenrechte der Palästinenser in den Hintergrund rücken oder gleich ganz vergessen zu können. Nein, das geht nicht. Menschenrechte sind unteilbar und können nicht nach politischer Opportunität zugesprochen oder verweigert werden. Das sollten wir hier in Deutschland – gerade hier – zur Richtschnur unseres Denkens und Handelns machen.

Im Landschulheim Anna Essingers hieß das Motto des Lebens: „Lernen mit Kopf, Herz und Verstand“. Es ging um das Erleben einer Atmosphäre, in der sich Kinder geborgen fühlten, gleichzeitig aber Selbstständigkeit mit einem Gefühl für Verantwortlichkeit entwickelten. Eine Maxime der Pädagogik war: „Der Lehrer muss ein Beispiel geben im Lernen, Lachen, Lieben, Leben“. Könnte man es besser formulieren? Nein, ich denke nicht. Auch für heute gilt, was im Landschulheim bis 1933 Grundgedanke war: „Jungen und Mädchen lernen nachzufragen, neugierig und selbstständig zu sein und Sachen selbst herauszufinden. Bei allen Arbeiten wird das kritische Denken gefördert.“

Das heißt, es ging – und geht – darum, Geschichte und Gegenwart kritisch zu betrachten, nach der „story behind“ zu fragen und zu suchen, der Sache auf den Grund zu gehen, radikal zu sein, das heißt, die Sache bei der Wurzel zu packen. Ganz im Sinne eines afrikanischen Sprichworts, das da heißt: „Solange die Löwen nicht ihre eigenen Historiker haben, werden die Jagdgeschichten weiterhin den Jäger verherrlichen.“

Mehr denn je brauchen wir diesen Ansatz. Das „Haus unterm Regenbogen“ verfolgt ihn seit 35 Jahren. Grundmaxime ist, das „kritische Denken zu fördern“, Vergangenheit lokal und global aufzuarbeiten, um zu begreifen, wie wir die Gegenwart und die Zukunft friedlicher – nein: friedlich – gestalten können.

Das ist – natürlich – eine tägliche Herausforderung, dazu braucht es Orte, die eine solche Auseinandersetzung möglich machen, dazu braucht es Menschen, die das als ihre „Mission“ ansehen. Das Haus unterm Regenbogen ist ein solcher Ermöglichungsort.

Ich denke, Sie wissen, dass ich 35 Jahre lang bei der Ulmer Volkshochschule gearbeitet habe. Das, was ich eben für das Haus unterm Regenbogen als Selbstverständnis der Arbeit gesagt habe, galt in diesen 35 Jahren auch für mich und die vh. Es ging darum, in und mit einer Bildungseinrichtung den täglichen Kampf für Demokratie, Solidarität und Menschenrechte zu führen. Wahrscheinlich haben wir uns auch deshalb so viel und so oft unterstützt, die vh und das Haus unterm Regenbogen. Und wir werden das sicher auch weiterhin tun.

Wir „ticken“ da sehr gemeinsam. Wir haben beide den Eindruck, dass es der Auseinandersetzung mit diesen Themen bedarf, und zwar nicht nur sporadisch und punktuell, sondern kontinuierlich, das heißt mit dem sprichwörtlich »langen Atem«. Und wir waren und sind beide der Überzeugung, dass diese ständigen politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nicht in irgendwelchen Hinterzimmern stattfinden dürfen, sondern mitten drin im öffentlichen Raum.

Die vh-Themen waren so oft die Themen des Hauses unterm Regenbogen und umgekehrt die Themen des Hauses unterm Regenbogen die vh-Themen. Wir alle waren – und sind – überzeugt, dass es nicht nur ein moralisches Gebot ist, sondern schlicht eine politische Notwendigkeit, die Zuschauertribüne der Geschichte zu verlassen und uns in die Geschichte, sozusagen »in die Verhältnisse« einzumischen. Die Erinnerungsarbeit ist da eine der zentralen Säulen dieser Einmischung. Eine andere ist die Erweiterung des Blicks, sozusagen die »Globalisierung des Blicks«.

35 Jahre Haus unterm Regenbogen heißen auch 35 Jahre Eine-Welt-Arbeit – oder vielleicht besser gesagt: 35 Jahre Solidaritätsarbeit. Mit Nicaragua, mit Jinotega im Mittelpunkt, aber auch über dieses Land und diese Stadt hinaus mit Bezug auf den gesamten Globalen Süden.

Es ist ja keine Frage: Wir leben heute – zu Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung – in einer Welt, die unglaubliche zivilisatorische Fortschritte mit sich gebracht hat. Und doch: Wir leben auch – und insbesondere – in einer Welt, die gnadenlos ist, gnadenlos gegenüber Menschen, die wir von unserem „Zentrum“ aus gedanklich und real in die „Peripherie“ versetzen, und gnadenlos gegenüber der Natur, kurzum: gnadenlos gegenüber dem Leben und dem Lebendigen. Der Preis für die großartigen Errungenschaften, auf die wir heute schauen können, ist die Rücksichtslosigkeit gegenüber den natürlichen Gegebenheiten und gegenüber der Lebenssituation von Menschen in anderen Teilen dieser Erde. Unsere „imperiale Lebensweise“ (Ulrich Brand) beruht auf der „Externalisierung“ (Stephan Lessenich): Wir holen alles, was wir zur Erzeugung unseres Wohlstandes brauchen, von außen, und schaffen genau dorthin das meiste wieder zurück, was nach dem Gebrauch der Dinge übrig bleibt: Schrott, Abfall, Emissionen.

Muss das so sein? Ist das ein Naturgesetz? Oder ist das eine von Menschen gemachte und aufrechterhaltene „Ordnung“? Ich denke, genau das ist es: ein von Menschen geschaffener Zustand. Aber: Was Menschen geschaffen haben, kann von Menschen auch wieder verändert werden. Es ist kein „natürlicher“ Zustand. Viele Menschen haben angefangen, über eine andere Welt nachzudenken und an ihr praktisch zu arbeiten. Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat es treffend auf den Punkt gebracht: Die viel beschworene „Alternativlosigkeit“ ist in Wahrheit nur Phantasielosigkeit.

Es gibt keine „Alternativlosigkeit“ zu den bestehenden – den in vielerlei Hinsicht mörderischen – Verhältnissen, die wir in vielen Teilen der Welt an jedem Tag, in jeder Stunde, in jeder Minute feststellen müssen. Oder besser gesagt: Die wir an jedem Tag, in jeder Minute, in jeder Sekunde zur Kenntnis nehmen könnten – und müssten –, wenn wir das nur wollten.

Aber wir nehmen sie in der Regel gar nicht zur Kenntnis, weil sie sowohl geographisch als auch sozial „weit weg“ von uns sind, weit weg von unseren Milieus, unseren – privaten und öffentlichen – Wahrnehmungen. Und doch gibt es sie, diejenigen, die Alternativen zu den herrschenden Verhältnissen entwickeln müssen, weil sie in jeder Hinsicht „alternativlos“ dazu sind.

Da werden Lebensgrundlagen in riesigem Ausmaß im wahrsten Sinne des Wortes ausradiert, da wird Land geraubt, da werden Menschen vertrieben, Wälder verbrannt, Wasser weggepumpt, Länder mit Stauseen geflutet, die Meere mit riesigen High-tech-Trawlern leergefischt und mit Plastik überzogen, kurz: die Welt unbewohnbar gemacht. Sie wird umgepflügt, staudammisiert, sojaisiert, palmölisiert, bananisiert, zuckerrohrisiert, Natur und Menschen terrorisiert.

Da ist es keine Frage des Erwägens, des möglicherweise Wollens, da ist es eine Frage des nackten und elementaren Überlebens, dagegen Widerstand zu leisten bei denen, die davon nicht abstrakt, sondern unmittelbar betroffen sind. Das Haus unterm Regenbogen ist ein Ort, an dem es genau darum geht, um die – wie es christlich heißt – „Bewahrung der Schöpfung“.

„Welt“ verändert sich nicht automatisch, es gibt keine automatische Verbesserung der Welt. Wir müssen es tun, Menschen müssen es tun. Wir leben – natürlich – in einer Welt der Konflikte, aber auch in einer Welt voller Initiativen. Wir leben in einer Welt, in der man immer wieder den neuen Wurf versuchen kann, den neuen Anfang.
Wie unser Engagement für diese andere Welt, die dann wirklich „unsere Welt“ genannt werden könnte, ausgeht, wissen wir nicht. Es gibt kein Naturgesetz, keine objektive Gewissheit, dass eine neue, solidarische Welt tatsächlich geschaffen werden kann. Nein, trotz all des Optimismus bleibt die Erkenntnis, dass die Verfechter der bestehenden Weltordnung nahezu alle Machtmittel in der Hand halten, diese Ordnung zu bewahren.

Und auch in diesem Zusammenhang bin ich wieder auf einen Satz gestoßen, der mich sehr inspiriert – um nicht wieder zu sagen: sehr geprägt – hat. Er ist von dem französischen Schriftsteller Albert Camus und lautet sinngemäß:
In einer Welt der Konflikte, einer Welt von Opfern und Henkern, ist es die Aufgabe der denkenden Menschen, nicht auf der Seite der Henker zu stehen.

Von daher gibt es also viel zu tun, sogar verdammt viel, aber ich denke: Resignation ist nicht angebracht, Depression hilft uns auch nicht weiter und ändert schon dreimal nichts an den herrschenden Zuständen. Halten wir uns daher doch ganz einfach an den unbekannten Autor einer Inschrift irgendwo im südamerikanischen Bogotá, wenn er an einer Hauswand meint: „Bewahren wir uns den Pessimismus für bessere Zeiten“.

Damit komme ich zum letzten Satz: Ich freue mich über 35 Jahre Haus unterm Regenbogen, danke Euch dafür und wünsche mir, dass es bestenfalls noch viele weitere Jahre gemeinsam mit Euch zu erleben gibt.

 

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